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Titel
Die verschwundene Arbeit. In Fotografien aus Berliner Sammlungen und Archiven


Herausgeber
Jost, Sarah; Wachter, Gabriela
Erschienen
Berlin 2008: Parthas Verlag
Anzahl Seiten
309 S., 295 Duplex-Abb.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Holtwick, Kreiskultur- und Archivamt Biberach

Fotografien sind in den letzten Jahren von der Geschichtswissenschaft als zentraler und aussagekräftiger Quellenbestand entdeckt worden. Die schärfsten Debatten entzündeten sich dort, wo Fotos buchstäblich „Einblicke“ in Extremsituationen von Krieg und Gewalt vermitteln. Das gilt für den Ersten Weltkrieg, mehr aber noch für den Zweiten und gerade auch für die nationalsozialistischen Verbrechen. Dabei wurden intensiv die Erfordernisse einer eigenständigen Quellenkritik und der Auseinandersetzung mit der fotografischen Ikonographie diskutiert.

Der umfangreiche Bildband „Die verschwundene Arbeit“ lässt sich aber eher in eine andere Tradition stellen. Schon vom Titel her dürfte es erlaubt sein, ihn in Zusammenhang zu bringen mit der großen Zahl populärer Bildbände, die auf die Zeit der 1920er- bis 1960er-Jahre zurückschauen und dabei weniger einen akademisch-kritischen Ansatz verfolgen als an die persönlichen Erinnerungen ihrer Leserschaft anzuknüpfen versuchen. Kommt darin die Arbeitswelt vor, dann nicht selten in Form des „schönen alten Handwerks“ oder der Landwirtschaft vor Durchsetzung der Mechanisierung.

Sarah Jost und Garbriela Wachter haben 295 Schwarz-Weiß-Fotos aus dem gesamten 20. Jahrhundert zusammengestellt, die in Berliner Museen, Archiven und Bildagenturen überliefert sind. Streng genommen verbindet die Bilder nur diese Tatsache, denn es lässt sich nicht in jedem Fall sagen, wo sie aufgenommen wurden. Die Fotos zeigen ganz überwiegend, aber eben nicht ausschließlich, Szenen der Berliner Arbeitswelt (das Foto 102 zeigt etwa eine Szene aus Höxter in Ostwestfalen). Das Ziel der Herausgeberinnen war es, die „Vielfalt an Erwerbstätigkeiten“ (S. 11) des 19. und 20. Jahrhunderts zu zeigen. Die Notwendigkeit dafür wird mit dem Verschwinden zahlreicher Berufe und Tätigkeiten durch die fortschreitende Technisierung begründet. Helga Grebing bezieht sich in ihrem knappen Beitrag vor allem auf den Rückgang der „körperlichen Schwerarbeit“ in den letzten 50 Jahren, zumindest „in den ‚reichen’ Ländern des Nordens“. Das bedeutete eine „Humanisierung“, ging aber vor allem in den letzten Jahren einher mit einer Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse (S. 14).

Schon hier wird deutlich, dass „Die verschwundene Arbeit“ sicher nicht zur Verklärung der Arbeitswelt der Vergangenheit beiträgt und sich ebensowenig als Illustration einer Geschichte der kontinuierlichen Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen betrachten lässt. Das Problem ist also nicht die Nostalgie oder deren Gegenteil, die Fortschrittsgläubigkeit, sondern – wie die Herausgeberinnen freimütig einräumen (S. 11) – die ungeheure Fülle der zur Verfügung stehenden Bilder. Hierbei stellt sich zum einen massiv die Frage nach den Kriterien der Auswahl, danach die Schwierigkeit einer sinnvollen Gliederung.

Die Entscheidung, bestimmte Fotos aufzunehmen, stützte sich offenbar neben dem Kriterium der „Vielfältigkeit“ auf die fotografische Qualität der Bilder und schließlich auf ihren Seltenheitswert (S. 11). Es entsteht letztlich ein Kaleidoskop der „Zeugnisse menschlichen Schaffens“ (ebd.). Gelegentlich wird derselbe Beruf, genauer müsste man sagen derselbe Arbeitsgang, zu verschiedenen Zeitpunkten gezeigt (z.B. im Bereich der Druckerei, S. 86-95). An anderen Stellen wiederum tauchen verschiedene Arbeitsschritte eines Berufs oder bei der Herstellung eines Produkts auf. Es bleibt aber auch in diesen Fällen bei Einzelaspekten; ein umfassenderes Bild eines Berufs entsteht nirgends.

Die thematische und chronologische Vielfalt lässt sich nur schwer systematisch gliedern. Sarah Jost und Gabriela Wachter bilden die neun Themenbereiche „Heimarbeit“, „Handwerk“, „Kleinhandel“, „Nahrungsmittelproduktion“, „Fabrikarbeit“, „Dienstleistung“, „Transport und Verkehr“, „Bauarbeit“ sowie abschließend „Unterhaltung“ und erläutern sie einleitend mit jeweils wenigen Sätzen. Diese Kategorien können aber weder trennscharf noch stringent sein, so dass zum Beispiel „klassische Handwerksberufe“ auch unter „Heimarbeit“ (Weber), „Nahrungsmittelproduktion“ (Bäcker und Metzger), „Dienstleistung“ (Schornsteinfeger) und „Bauarbeit“ (Maurer) auftauchen. Zwar kann und muss der Bildband nicht den Erfordernissen einer strengen theoretischen Durchdringung des Themas Erwerbsarbeit genügen, doch bleibt das Gesamtbild, das er erzeugt, gänzlich diffus. Dazu trägt auch bei, dass durch die bloße Reproduktion der Vielfalt von Berufen und Tätigkeiten keine Gewichtung mehr erfolgt, so dass die „Unterhaltung“ fast genauso umfangreich ausfällt wie die „Dienstleistung“ – und dabei tatsächlich auch noch deutlich unterhaltsamer ist.

Solche Kritik würde weniger ins Gewicht fallen, wenn die Fotos entweder als Quellen oder als Kunstwerke ernster genommen würden. Nur in Ausnahmefällen erfährt der Leser, zu welchem Zweck jeweils fotografiert wurde – beispielsweise für eine Werbebroschüre der Firma „Essig Kühne“ (S. 157). Die Fabrik-Arbeit erscheint hier extrem geordnet und äußerst sauber und damit vollkommen anders als im Falle des eher als Schnappschuss wirkenden Fotos von Frauen, die in einer Likörfabrik die leeren Flaschen mit der Spülbürste reinigen (S. 143). Die Informationen über die Fotografen gehen nicht über deren Namen hinaus, was den Quellenwert der Aufnahmen ebenfalls sehr beeinträchtigt. Noch dringender wäre eine Einordnung in den Fällen gewesen, wo die Fotos im Dienste eines Regimes standen bzw. potenziell für dessen Zwecke vereinnahmt wurden, also konkret in der Zeit des Nationalsozialismus oder in der DDR.

Interessant wäre es gewesen, die Bildsprache wenigstens an einigen Beispielen zu analysieren. Dazu hätte aber zumindest eine exakte Beschreibung der Bildinhalte gehört. So wird beispielsweise „mit einem gezielten Hammerschlag“ nicht einfach ein Rind, sondern ein Bulle geschlachtet (S. 132). Es handelt sich um ein starkes und möglicherweise gefährliches Tier, dessen fotografisch festgehaltene Tötung durchaus als Hinweis auf Stärke und Männlichkeit der handelnden Metzger verstanden werden kann. Die Aufnahme eines alten Streichholzverkäufers, der an einem hohen Eisenzaun kauert und dem ein kleines Mädchen im Sonntagskleid etwas abkauft, appelliert deutlich an das Mitleid der Betrachter (S. 102). Dagegen wäre die Aufnahme des Hausierers, der in die Ferne zu blicken scheint, genauer zu untersuchen, da sie aus der Froschperspektive erfolgte und damit ihren Gegenstand in gewisser Weise überhöht (S. 115). Einige der Industriefotografien zeigen eine Ästhetik, die mit Formen und Linien arbeitet, und verlassen dadurch die Ebene reiner Dokumentarfotos. Es hätte sich ohne Zweifel gelohnt, die Bezüge solcher Aufnahmen zur zeitgenössischen Malerei oder zur Architektur zu behandeln. Diese Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen.

Letztlich bleibt der Bildband unentschieden, was er zeigen will – die Details der jeweiligen Arbeitsgänge, die Arbeitsbedingungen, die soziale Lage der Arbeitenden, die Bildästhetik oder noch andere Aspekte? Auch angesichts der offenbar großen Materialmenge, aus der ausgewählt werden konnte, wäre es reizvoll und möglich gewesen, eine oder gar mehrere Untersuchungsperspektiven und die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse exemplarisch vorzuführen. Verschiedene Blicke auf denselben Beruf (Werbematerial, sozialkritische Fotografie, Selbstinszenierung der Arbeitenden usw.) hätten beispielsweise interessante Einsichten verschaffen können. So bleibt es bei einer Vielfalt, die sicher ihre eigenen Reize hat, die aber nur erahnen lässt, was aus dem Fundus der großen Bildbestände der „Berliner Sammlungen und Archive“ alles herauszuholen wäre. Ein etwas ambitionierteres Ziel als jenes, nur „den Anstoß [zu] geben zu einer mehr systematischen und gründlicheren Sichtung all der ungehobenen Schätze“ (S. 11), wäre wohl erreichbar gewesen. Aber natürlich ist auch das verdienstvoll.